Am 25. Mai ist Europawahl, und wenn wir überlegen, welche Aussage wir mit unserer Stimme kundtun, stellt sich am Anfang nicht die Frage nach der Bedeutung des supranationalen Konstrukts namens „Europäische Union“ für globale Finanzpolitik. Sie stellt sich zunächst privat: Welche persönliche Geschichte verbinden wir mit Europa, mit dem europäischen Einigungsprozess?

Über Europa eine Aussage zu treffen, scheint nicht so einfach. Die Europäische Union ist ein komplexes, in vielerlei Hinsicht intransparentes Labyrinth, das wir nicht ganz durchschauen und folglich auch nicht greif- und begreifbar machen können. Das ruft Unsicherheit und Ängste hervor.

Mythos und Money

Der altgriechische Mythos von Europa handelt von einem schönen Mädchen und einem Gott in Gestalt eines weißen Stiers, der ihr Vertrauen gewinnt. Er begründet Europa in der Fragilität zwischen Begehren und Vertrauen. Aber können wir bei dieser Erzählung ansetzen – wie ist es denn um unser Vertrauen in Europa bestellt?

Oder beginnen wir lieber beim Bullen der Börsen, der Europa nicht begehrt, sondern ihrer Fruchtbarkeit nacheifert, indem er – allerdings nur virtuelle – Finanzpakete gebiert? Auch diese Erzählung ist gekracht, aufgrund der Beharrlichkeit des Bullen mehrmals.

Unser Lebensbereich

Wo setzen wir an, wenn wir von Europa reden? Liegt das Problem nicht darin, dass wir die Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Europa“ auf einen gemeinsamen Nenner oder ökonomische Parameter zu reduzieren versuchen? Der europäische Einigungsprozess hat sich eben nicht als Vereinheitlichungsprozess mit schnellen und einfachen Schritten wirtschaftlicher und struktureller Art – wie etwa einheitliche Zinssätze bei der Staatsfinanzierung – erwiesen. Der optimistische Sog des Zusammenwachsens droht umzuschlagen in eine zentrifugale Abwendung von Europa hin zu den Nationalstaaten.

In der als Vorwurf anmutenden Anrede „Brüssel“ erscheint Europa als Fremdkörper. Es ist aber unser gemeinsamer Lebensbereich. Deshalb bildet die Pluralität unserer eigenen Geschichten in und mit Europa den Anfang für seine Sinngebung.

Geheilte Sehnsucht

Meine Geschichte beginnt Mitte der 80er Jahre in Bulgarien. Als Kind verbrachte ich oft die Ferien bei meiner Großmutter, unweit der türkischen Grenze. Das Dorf lag auf beiden Seiten der Europastraße 80, die von Portugal nach Kleinasien führt. Ab und zu unterbrachen wir Kinder unsere Spiele, um den Autos der Reisenden nachzusehen. Oft rannten wir am Straßenrand entlang, um selbst das Ziel dieser Straße aufzunehmen und uns einfach frei zu bewegen. Doch Europa blieb eine Sehnsucht.

Da Sprache das Heilmittel der Sehnsucht ist, lernte ich in der Stadt zweimal pro Woche Deutsch. In die ersten Wörter des Fremden gekleidet, besuchte ich das Fremdsprachengymnasium. Gleich das erste Schuljahr fiel mit der Wende zusammen, es kamen Lehrer aus Gießen. Später habe ich in Bonn studiert, ging in Berlin aufs Kolleg.

Heute betreue ich einen bilateralen Studiengang, unterrichte deutsche Sprache und Literatur und gestalte hier im Bezirk grüne Politik mit. Und schreibe über die Möglichkeiten, die der europäische Einigungsprozess dem Einzelnen eröffnet.

Beginnen wir bei uns

Vor den großen Aussagen über Demokratiedefizite der EU, über mangelndes europäisches Bewusstsein, über die Finanzierung der Rettungsschirme – lasst uns dort über Europa zu reden beginnen, wo wir selbst in Europa stehen.

Ich stimme am 25. Mai für meine Geschichte ab. Wie lautet Ihre?

Tonka Wojahn ist Kreisvorsitzende und integrationspolitische Sprecherin der BVV-Fraktion.

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