Herrenberg und die Folgen

Im Sommer 2022 stellte das Bundessozialgericht (BSG) fest, dass es sich bei einer auf Honorarbasis bezahlten selbständigen Musiklehrerin der Herrenberger Musikschule um eine sogenannte “Scheinselbständigkeit” handelt. Das hat weitreichende Folgen für den Musikschulbetrieb in ganz Deutschland und damit auch in Steglitz-Zehlendorf

Die Argumentation scheint dabei zunächst plausibel: die Musiklehrerin bekommt für den Unterricht Zeiten, Räume und Lernende der Musikschule zugeteilt, nutzt dort vorhandene Instrumente und Unterrichtsmaterial. Im Kern geht es beim Herrenberg-Urteil als Präzedenzfall also um die Frage, ob Musiklehrkräfte, die an städtischen Musikschulen tätig sind, tatsächlich als selbstständig gelten oder de facto scheinselbständig beschäftigt werden. Das BSG hat festgestellt, dass viele Musiklehrkräfte aufgrund ihrer konkreten Arbeitsbedingungen als abhängig beschäftigt einzustufen sind, auch wenn sie formal als Selbstständige geführt werden. Das Gericht stellte klar, dass Lehrkräfte, die keinen nennenswerten unternehmerischen Spielraum haben und an feste Vorgaben der Musikschulen gebunden sind, wie angestellte Arbeitnehmer*innen zu behandeln sind. Im Falle von Steglitz-Zehlendorf sind es etwa 20% fest angestellte Lehrkräfte und 80% der vom Urteil betroffenen Honorarkräfte.

Diese Entscheidung hat eine erhebliche Bedeutung für die Arbeitsbedingungen an allen deutschen Musikschulen, da sie den betroffenen Lehrkräften Zugang zu Arbeitnehmerrechten wie Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Rentenversicherungsansprüchen verschaffen würde. Für viele Musiklehrkräfte ist dies nicht zuletzt eine längst überfällige Anerkennung ihrer Arbeit und ihres Beitrags zur kulturellen Bildung. Ein Statement z.B. der Berliner Philharmoniker (s. Bild) weist auf diesen Zusammenhang hin:

Auf der anderen Seite stellt das Urteil aber auch eine große Herausforderung für den aktuellen Betrieb der bezirklichen Musikschule “Leo Borchardt” dar: vom Land bisher weitgehend allein gelassen, können die Auswirkungen drastisch sein – bis hin zur Strafbarkeit des Abschlusses neuer Verträge mit Lernenden. Hier hat sich bei uns dankenswerterweise die Stadträtin Richter-Kotowski in die Bresche geworfen und unterschreibt diese Verträge selbst, um ihre Mitarbeitenden zu schützen.

Darüber hinaus wirft das Urteil natürlich erhebliche finanzielle Unwägbarkeiten auf: so bräuchte das Land Berlin insgesamt etwa 20 Mio. EUR, um die Lücke zu decken und die Arbeitsverhältnisse der Musikschullehrkräfte in Festanstellungen zu wechseln und der Bezirk alleine etwa 2,5 Mio. EUR – eine Summe, die auf bezirklicher Ebene auf keinen Fall “einfach so vorrätig” ist, wird doch in den Haushaltsverhandlungen jeweils schon um wesentlich kleinere Summen gerungen. Rücklagen sind aufgebraucht, Finanzmittel müssten an dringenden Stellen abgezogen werden und der Musikunterricht sollte -insbesondere für Kinder aus einkommensschwächeren Familien- nicht mehr weiter verteuert werden.

Es kann hier also nur eine gesamtstädtische Initiative gestartet werden , um diesen wichtigen Teil der musikalischen Bildung zu sichern. Doch bisher fiel der Senat nicht durch konzeptuelle Überlegungen auf – einzig ein Moratorium bis Mitte Oktober 2024 wurde heuausgehandelt, bis zu dem die  Arbeitsverhältnisse dieses Bereichs gegen Prüfung auf Scheinselbständigkeit gesichert sind. Was danach kommt, vermochte auch der Kultursenator im persönlichen Gespräch bisher nicht zu sagen. Eine Petition an ihn dazu gibt es hier:
https://www.openpetition.de/petition/online/existenz-oeffentlicher-berliner-musikschulen-sichern-2

Am 16. September wird es dazu auch eine musikalische Demonstration des Landesmusikrates geben. Also Instrumente mitbringen: https://www.landesmusikrat-berlin.de/musikpolitik/aktionsseite-musikschule/

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Das Urteil im Wortlaut:

https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Entscheidungen/2022/2022_06_28_B_12_R_03_20_R.pdf?__blob=publicationFile&v=2

geschrieben am 11. September 2024 von Carsten Berger